Individuelle Erwerbsverläufe im sinnerfassenden Lesen ein- und mehrsprachiger SchülerInnen
Individuelle Erwerbsverläufe im sinnerfassenden Lesen ein- und mehrsprachiger SchülerInnen
Projektbeschreibung
Projektleitung: Nadja Kerschhofer-Puhalo
Projektteam: Nadja Kerschhofer-Puhalo, Werner Mayer
Finanzierung: Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Frauen und der Arbeiterkammer Wien
Laufzeit: 01.09.2013 – 31.12.2014
Internationale Leistungsstudien wie PISA (15-/16-Jährige) oder PIRLS (4. Schulstufe) zeigen, dass die Leseleistungen österreichischer Schüler/innen vergleichsweise leicht unterdurchschnittlich sind und dass die Leistungen einer vergleichsweise großen Gruppe von Volksschüler/innen der 4. Schulstufe bestenfalls im Bereich der Basiskompetenzen liegen.
Anders als in vielen breit angelegten quantitativen Untersuchungen und Überprüfungsverfahren zu Leseleistungen liegt in diesem Projekt besonderes Augenmerk auf der Dokumentation qualitativer und longitudinaler Daten, um die Entwicklung von Lesefertigkeiten ein- und mehrsprachiger Kinder der 2. Schulstufe und individuelle Herangehensweisen an Lesetexte zu dokumentieren. Vor dem Hintergrund, dass Erwerbsmodelle zum Schriftspracherwerb nur von einsprachigen Kindern ausgehen und dass der Erwerb von Lesekompetenzen mehrsprachiger Kindern im Elementarbereich nur unzureichend beschrieben ist, deckt das Projekt eine wichtige Forschungslücke ab.
Im Zuge der Projektarbeit entstand ein Korpus von Videos mit mehr als 50 Kindern, die bei der Bearbeitung von Leseaufgaben und anderen schriftbezogenen Tätigkeiten über den Zeitraum von mindestens einem Jahr beobachtet und befragt wurden. Dieses Material bietet wichtige Anregungen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und trägt zu einer Sensibilisierung für die vielfältigen Formen und Ursachen von Leseschwierigkeiten und einer Reflexion pädagogischen Handelns bei. Die Ergebnisse sollen für die fortschreitende Professionalisierung von Lehrkräften im Bereich Leseforschung, Mehrsprachigkeit und Leseförderung wie auch für die grundlegende bildungspolitische Arbeit nutzbar gemacht werden.
Die wichtigsten Ergebnisse der Datenanalyse: Individuelles Leseverstehen ist nicht nur bestimmt von basalen Lesefertigkeiten und der Entfaltung sprachstruktureller und begrifflicher Vorstellungen sondern auch von einem grundlegenden Verständnis der Aufgabenstellung, von Situations- und Weltwissen, persönlichen Zugängen zum Lesestoff und ganz wesentlich auch von Motivation und Selbstkonzepten der Schüler/innen als "gute" oder "schlechtere" Leser/innen.
Gründe für Schwierigkeiten liegen nicht nur bei Kindern oder ihrem "sozialen Umfeld", sondern zu einem wesentlichen Teil auch im Einsatz von Lesetexten, Lern- und Übungsmaterialien selbst. Eine Analyse gängiger Materialien zur Leseförderung zeigt, dass einige der verwendeten Texte und Aufgabenformate bereits in sich Schwierigkeiten und Mehrdeutigkeiten tragen und in dieser Form nur bedingt zur Förderung von Leseverstehen beitragen. Interpretation und Verarbeitung des Gelesenen bleibt meist dem Kind allein überlassen. Gegebenenfalls wird es in schriftlicher Form nach dem Inhalt befragt. Die Überprüfung von Leseverstehen im Unterricht wie auch in den großen Leistungsvergleichsstudien (z.B. PISA) erfolgt meist in Form von Fragen zum Text und suggeriert, Texte wären entweder "falsch" oder "richtig" zu verstehen. Die Anschlusskommunikation, d.h. das Reden über das Gelesene, die auch individuelle Unterschiede in Interpretation und Bewertung eines Textes behandelt, kommt in der Praxis oft zu kurz.
Für die Praxis der Leseförderung und die Erarbeitung von Förderkonzepten bedeutet das: Leseförderung muss Texte anbieten, die auf individuelle Lesefertigkeiten, unterschiedliche sprachliche Fertigkeiten und Interessen von Kindern eingehen, ausreichend Freiraum für individuelle Sinnkonstruktionsprozesse geben und von Sanktionen im Falle von Nicht-Verstehen absehen. Übungsmaterialien zur Leseförderung sind vor ihrem Einsatz kritisch auf „Selbstverständlichkeiten“ in Wortschatz und Aufgabenstellung zu überprüfen. Besondere Bedeutung kommt der Anschlusskommunikation über das Gelesene zu, um sprachliche Fertigkeiten gemeinsam mit Leseverständnis-Strategien auf- und auszubauen und damit auch positive Selbstkonzepte zu entwickeln.
Publikationen
Kerschhofer-Puhalo, Nadja/Mayer, Werner (2014), „Individuelle Lesestrategien ein- und mehrsprachiger SchülerInnen – ein videographischer Zugang“, in: Lütke, Beate/Petersen, Inger (Hrsg.), Deutsch als Zweitsprache – erwerben, lernen und lehren. (Reihe Beiträge aus dem 9. Workshop Kinder mit Migrationshintergrund). Stuttgart: Fillibach bei Klett, S. 115-141.
Kerschhofer-Puhalo, Nadja/Lalouschek, Johanna/Mayer, Werner (2018), „Lesen und lösen – Prozessorientierte videobasierte Analyse der Bearbeitung von Leseverständnisaufgaben durch Grundschulkinder". In: Moritz, Christine/Corsten, Michael (eds.), Handbuch Qualitative Videoanalyse. Wiesbaden: Springer Verlag VS, 585-606.